Kanzlerkandidatin Baerbock auf Martin Schulz‘ Spuren: Auf den Medien-Hype folgt Ernüchterung

Die aktuellen Umfragewerte für Annalena Baerbock und ihrer Partei sind im Juni stark rückläufig. Nach dem Hype um die Kanzlerkandidatur erfolgte der gegensätzliche Effekt. Eine „Grüne Kanzlerin“ wird es in 2021 nach jetzigem Stand wohl nicht geben.

Dieses massive Umfragehoch kurz nach Verkündung der Kandidatur und der darauf folgende Rückgang gleicht in vielerlei Hinsicht den Geschehnissen im Jahr 2017, als Martin Schulz zum SPD-Kanzlerkandidaten ernannt wurde. Zunächst ein enormes Umfragehoch (viele sahen den Wechsel schon als gemachte Sache), dann der tiefe Fall für Schulz und seine SPD. Das Ergebnis kennen wir.

Ein genauerer Blick auf den Aufstieg und Fall der SPD um Martin Schulz in diesen Monaten des Jahres 2017 lohnt sich aber: Zum einen ist es interessant, mit welchen Themen Schulz in den Medien in den Monaten Januar bis September zunächst stieg und dann fiel. Zum anderen sehen wir spannende Parallelen zu Baerbock und den Grünen in diesem Jahr.

Martin Schulz: Kanzlerkandidat im Januar 2017 und der Effekt auf die Umfragewerte zur SPD:

SPD Umfragewerte 2017
Daten-Quelle: https://www.infratest-dimap.de/umfragen-analysen/bundesweit/sonntagsfrage/

Im Januar lag die SPD bei 21,5%. Als Martin Schulz im Januar zum Kanzlerkandidaten der SPD ernannt wurde, setzte der Hype ein. Der Höhepunkt des Schulz-Effekts war im März erreicht. Mit 31,5% lag die SPD 10 Prozentpunkte über den Umfragewerten im Januar!

Ab Mai setzte der Rückgang ein und im Wahlmonat September lag die SPD gar ein Prozentpunkt hinter dem Startmonat – am Ende auch das Wahlergebnis für die SPD.

Eine Analyse der Überschriften der Online-Nachrichten zu und über Martin Schulz kreiert ein aufschlussreiches Bild der Monate des Aufstiegs und des Sinkflugs für den damaligen Kanzlerkandidaten und seine Partei.

Mit einer Sentiment Analyse ist es möglich, Stimmungen anhand der Verwendung von Begriffen zu ermitteln. Auf einer Skala von +1 (positive Stimmung) bis -1 (negativ). Für Überschriften, die Martin Schulz zuzuordnen sind, ergibt sich im Mittel aller Sentiment-Scores nach Monat dieses Bild:

Sentiment Score (Mittelwert) der Überschriften aus Online-Nachrichten mit „Schulz“ (1.441 Nachrichten zwischen Januar und September 2017 -> näheres zu den Quellen am Ende des Beitrags)

Der Januar ragt hier extrem positiv hervor. Die Ernennung zum Kanzler-Kandidaten hat eine Welle an positiven Meldungen über Martin Schulz hervorgerufen. Geradezu überschwänglich feierte ein Großteil der Presselandschaft den Kandidaten Schulz! Im April kehrte sich der Trend um, was sich ja auch in den Umfragewerten der SPD widerspiegelt. Spannend zu sehen, was da eigentlich medial passiert ist:

Welche Themen um Martin Schulz waren denn derart positiv? Und was passierte im April? Ein Blick auf die Überschriften gibt Antworten darauf:

Schauen wir uns dazu einige dieser Überschriften inklusive Sentiment Score-Ergebnis exemplarisch in der chronologisch passenden Reihenfolge an:

dateclear_titlequellesentiment
24.01.2017Kanzlerkandidat Schulz – eine gute Entscheidungsueddeutsche.depositiv
25.01.2017Der neue Kanzlerkandidat: Deshalb ist Schulz gut für die SPDn-tv.depositiv
31.01.2017Hunderte neue Mitglieder: SPD freut sich über Schulz-Effektspiegel.depositiv
03.02.2017SPD-Umfragehoch: Schulz-Hype macht Union nervösspiegel.deneutral
11.02.2017Vorwürfe gegen Kanzlerkandidat: Dubiose Zahlungen für Schulz-Vertrautenn-tv.denegativ
12.02.2017SPD empört über Union: Sie bewerfen Martin Schulz mit Dreckfaz.netnegativ
21.02.2017Reform der Agenda 2010: Arbeitgeber und Wirtschaft verteufeln Schulz Agenda-Ideenstern.denegativ
23.02.2017Umstrittene Reisespesen: EU-Betrugsbekämpfer prüfen Zulagen für Schulz-Mitarbeiterstern.denegativ
11.02.2017Union verschärft Ton gegen Schulzfaz.netnegativ
11.02.2017Schäubles Schulz-Trump-Vergleich: Gabriel warnt vor Wahlkampf à la USAspiegel.denegativ
13.02.2017Martin Schulz im Fadenkreuz: SPD unterstellt Union Schmutzkampagnen-tv.denegativ
02.02.2017Deutschlandtrend bestätigt Umfragen: Schulz-Effekt beschert SPD-Rekordzuspruchn-tv.depositiv
07.02.2017SPD erstmals vor Union – Schulz-Schock erschüttert Unionbild.depositiv
01.03.2017Falsche Fakten : Die CDU kratzt heftig an Schulz Imagen-tv.denegativ
22.03.2017EU-Parlament: Ausschuss rügt Personalentscheidungen von Schulzspiegel.denegativ
22.03.2017EU-Parlamentsausschuss rügt SPD-Chef Schulztagesschau.denegativ
23.03.2017Bundestagswahl 2017 – Mitarbeiter begünstigt EU-Parlament rügt Personalentscheidungen von Martin Schulzfocus.denegativ
04.04.2017Umstrittenes Spaßbad in Würselen: Wie Martin Schulz den Haushalt seiner Stadt belastet hatstern.denegativ
27.04.2017politik: EU-Parlament rügt Ex-Präsident Schulzbild.denegativ
12.04.2017FDP-Finanzexperte Hermann Otto Solms warnt – Wenn Schulz tut was er sagt sinkt der Wohlstand und die Arbeitslosigkeit steigtfocus.denegativ

Wir starten im Januar mit Lobpreisungen, ich habe mich hier auf drei beschränkt, die Liste wäre zu lang dafür. In den Monaten darauf sehen wir eine Entwicklung hin zu negativen Themen für Schulz. Aus Sicht der SPD mitunter eine Schlammschlacht, die an Methoden im US-Wahlkampf erinnere. Für Schulz wird die Rüge des EU-Parlamentausschusses im März dann spätestens zur Kehrtwende. Das Spaßbad und am Ende die geäußerte Sorge um des Deutschen liebstes Gut, dem Wohlstand, der negative Höhepunkt.

Das folgende Diagramm setzt die beiden ersten Charts (Umfragewerte und Sentiment-Score) zusammen:

Im April setzt die überwiegend negative Berichterstattung ein. Die sinkenden Umfragewerte folgen ab Mai. Das Ergebnis der Bundestagswahl kennen wir!

Annalena Baerbock: Wie einst Schulz! Nur viel schneller.

Auch für Baerbock und die Grünen ging es nach der Verkündung zur Kandidatur steil nach oben, dazu die Umfragewerte für die Grünen in 2021:

Im April wurde die Kanzlerkandidatur verkündet. Der Effekt auf die Umfragewerte der Grünen wird deutlich sichtbar, wenn auch mit 4%-Punkten plus im Vergleich zu Schulz‘ 10 Prozentpunkten relativ überschaubar. Hielt der Schulz-Effekt bei den SPD-Umfragewerten in 2017 noch satte 3 Monate, geht es bei den Grünen in 2021 direkt im darauf folgenden Monat Juni zurück auf 20% und damit auf das Niveau von Q1 (nebenbei bemerkt ungefähr das Wahlergebnis der SPD, die ja dann zum Juniorpartner in der Großen Koalition wurde ^^).

Themen in Baerbock-Überschriften und ihr Sentiment-Score

Auch hier schauen wir auf die Themen und der Einschätzung, ob die Meldungen bei den Themen positiv, neutral oder negativ waren:

Die Themen zu Annalena Baerbock bis Juni 2021 und der Sentiment-Score zur Überschrift zeigen farblich hervorgehoben, dass die Überschriften im Zusammenhang mit dem Begriff „Kanzlerkandidatin“ überwiegend positiv, im Zusammenhang mit „Nebeneinkünfte“ erwartungsgemäß negativ zu bewerten sind.

Die Themen-Chronologie um Baerbock in den Medien seit April:

Im April waren Überschriften für und mit Baerbock enorm positiv, im Mai kamen die Fehler im Lebenslauf und das Nachmelden der Nebeneinkünfte derart stark negativ in die Nachrichten, dass der durchschnittliche Sentiment Score aller Nachrichten entsprechend negativ wurde – ähnlich wie bei Schulz!

Kausaler Zusammenhang zwischen Sentiment und Umfragewerten?

Der Rückgang der Umfragewerte der Grünen auf das vorherige Niveau die Folge. Ob hier eine Kausalität vorliegt ist schwer zu sagen. Ich halte einen Zusammenhang zwischen negativer Berichterstattung und im folgenden sinkende Umfragewerte allerdings für plausibel. Ein allgemeiner negativer Effekt nach dem Hype ist sicher normal, aber der zeitliche Zusammenhang mit dem Wechsel im Ton der Berichterstattung sehr markant.

Verantwortung der Medien?

Die Frage, die sich aus dieser kleinen Analyse ergibt: Welche Verantwortung haben die Medienmacher in diesem Zusammenhang? Ist es zu viel Hype und zu viel Negatives? Wäre eine etwas weniger ausladende Berichterstattung insgesamt sinnvoll? Wäre sie machbar? Eher unwahrscheinlich, es geht schließlich im Klicks, um Leser und deren Interessen.

Medienvertreter werden zudem entgegnen, die Kandidaten selbst machen die Überschriften durch ihr Handeln und (Fehl-)verhalten. Das stimmt bis zu einem gewissen Grad auch, es wird aber aus vielen Kleinigkeiten Skandale gemacht und lang wie Kaugummi gezogen, sofern es noch klickwert genug ist. Dafür sorgen wiederum eben jene Überschriften, die hier analysiert werden.

Schmutzige Wäsche? Wahlkampf-Methoden mit US-Vorbild?

Der Vorwurf Sigmar Gabriels hallt noch in den Ohren: „Gabriel warnt vor Wahlkampf à la USA“. Das war 2017. Die Füllmenge an schmutziger Wäsche, die im Laufe des Wahljahres und insbesondere nach Bekanntgabe einer Kanzlerkandidatur sich anhäuft, ist offenkundig gewaltig. Das zeigen auch die letzten beiden Monate nochmal eindrucksvoll. Welchen Einfluss die Gegenseite ausübt und was bei Medien hausgemacht ist kann ich nicht einschätzen. Ich kann mir aber den Lobby-ähnlichen Einfluss Partei-finanzierter Treiber auf die Themenfindung der Redaktionen gut vorstellen. Keine schöne Vorstellung …

Wenn wir bei der Verantwortung der Medien bleiben: Es ist richtig, wenn die Vergangenheit der Kandidierenden für hohe politische Ämter auf Ungereimtheiten geprüft wird. Einen erschlichenen Doktortitel erst zwei Jahre nach der Wahl aufzudecken, ist für alle Seiten unschön.

Wenn es aber ausufert, also aus kleineren Ungereimtheiten wochenlang Schlagzeilen gebildet werden, muss man die Grenzen des noch erforderlichen hinterfragen. Das gilt für SPD, Grüne, CDU/CSU, FDP, Linke und AfD gleichermaßen. Es wird zu oft übertrieben und die Stimme der Vernunft, die es ja auch durchaus gibt in der Medienlandschaft, erhält nicht die Aufmerksamkeit, die sie aus meiner Sicht verdient.

Auch Inhalte – immer wieder höre ich von den Kandidat*innen es gehe um Inhalte – gehen in der Masse der Artikel um Nebenschauplätze schlichtweg unter!

Über den Wahlkampf wird hier noch die ein oder andere Analyse erfolgen. Der Dreikampf Laschet, Baerbock und Scholz wird nochmal spannend. Wahrscheinlich nicht bezogen auf die K-Frage, jedoch bestimmt in der Quantität und Qualität der Berichterstattung, der Themen und des Tons der Überschriften – des Sentiments.

Welche Quelle leistet bei dieser Auswertung welchen Anteil?

Datenbasis und Infos zur Auswertung: Als Basis dienen Überschriften der veröffentlichten Online-Artikel seit 2017 folgender Quellen: bild.de, spiegel.de, stern.de, faz.net, sueddeutsche.de, focus.de, n-tv.de und zeit.de. Welt.de kam im Februar 2018 als neue Quelle hinzu.  – damit sind hier laut der Dezember IVW-Auswertung nach meedia.de 65% der Inland-Marktanteile für Nachrichtenangebote abgedeckt. Es wurde hierbei nicht nach Politik-Ressorts gefiltert. Es sind nicht ausnahmslos alle Artikel erfasst.

Passend: Parteien und Politiker*innen in Online Medien